Dieser Beitrag ist anlässlich einer Blogparade geschrieben. Generose Sehr hat dazu aufgerufen, über Tabuthemen zu schreiben und intensive negative Gefühle den eigenen Kindern gegenüber ist etwas, das zwar viele kennen, aber kaum jemand spricht darüber.
Ich habe es jetzt Hass genannt, weil Liebe und Hass bekanntlich nah beieinander liegen. Gemeint sind einfach intensive negative Gefühle den eigenen Kindern gegenüber, die zumindest zeitweise auftreten. Oh und was können sie intensiv sein...
Sicherlich sind wir alle da verschieden, nicht jedes Kind fordert einen so stark heraus und nicht jeder Elternteil kann eine intensive Wut entwickeln. Spricht man aber mal offen darüber, stellt man schnell fest, dass die meisten schon sehr sehr negative Gefühle ihren Kindern gegenüber hatten und sich dafür schämen oder mit Schuldgefühlen kämpfen. So viel vorweg: Es gibt keinen Grund sich zu schämen! Bevor du dich jetzt vor Schuldgefühlen in die Ecke verkriechst – keine Panik! Solche Gefühle sind normal und haben mehr mit Biologie und Stress zu tun, als du vielleicht denkst.
Ich hätte meinen Sohn am liebsten geschüttelt....
Ich habe vier Kinder. Jedes einzelne von ihnen ist natürlich auf seine Weise herausfordernd, aber mein drittes hat mich stärker an meine Grenzen gebracht, als die anderen drei zusammen. Ich habe schon mehrfach zu anderen gesagt, dass das kein Kind, sondern eine Prüfung ist. Ich liebe diesen Jungen von Herzen. Dennoch hat er mich gefühlsmäßig an mein absolutes Limit gebracht. Ich hatte den Impuls zu schreien, ihn zu schütteln oder zu schlagen - stattdessen bin ich aus dem Raum gegangen, habe durchgeatmet und mich nach einer kurzen Pause wieder geduldig dem Kind gewidmet. So weit so gut, aber wie kann man so primitive Gefühle einem so kleinen und unschuldigen Wesen gegenüber haben (er war da etwa 18 Monate alt)?
Nun, ich reagiere ja nicht sofort so. Dieser Situation vorausgegangen waren 5 nahezu schlaflose Nächte. Mein Mann hatte Nachtschicht, daher war ich alleine für den "Nachtdienst" verantwortlich. Während die anderen Kinder ihre Zähne unbemerkt nebenbei bekamen, bedeutete bei Kind Nr. 3 ein neuer Zahn, dass er mehrere Nächte lang bis zu 20 Mal in der Nacht aufwachte. Immer wenn ich gerade am Eindösen war, ging es wieder los. Und seine Primärreaktion war Wut, daher wurde noch nach mir getreten, wenn ich versucht habe, ihn zu beruhigen. Das ganze 5 Nächte hintereinander und ich war einfach am absoluten Limit. Nicht umsonst ist Schlafentzug eine bekannte Foltermethode.
Was dabei im Gehirn passiert
Wenn du dich in einer solchen Stresssituation befindest, spielt das limbische System deines Gehirns eine zentrale Rolle. Dieses System ist verantwortlich für unsere Emotionen und das Überleben. Insbesondere die Amygdala, auch als "Angstzentrum" bekannt, wird aktiviert. Sie signalisiert deinem Körper, dass eine Bedrohung vorliegt – und das Kind, das unaufhörlich schreit oder eine Szene macht, wird als solche wahrgenommen.
Gleichzeitig tritt der präfrontale Kortex, der für logisches Denken und Selbstkontrolle zuständig ist, in den Hintergrund. Er hat in dieser Situation einfach nicht mehr genügend Ressourcen, um "vernünftig" zu denken, da das Gehirn im Überlebensmodus ist. Die Stresshormone Adrenalin und Cortisol fluten deinen Körper, und das setzt alles auf Kampf oder Flucht. Sobald das Gehirn die Alarmglocken läutet, reagiert der Körper. Der Puls steigt, die Muskeln spannen sich an, der Atem wird schneller. Diese körperlichen Reaktionen bereiten uns evolutionär auf einen Kampf oder eine Flucht vor. Doch in einem modernen Kontext – zum Beispiel am Spielplatz oder beim Abendessen – sind diese Reaktionen fehl am Platz.
Das Gefühl, dein Kind zu schütteln oder gar zu schlagen, ist also im Grunde ein überaktives Überlebensprogramm, das sich über Jahrtausende entwickelt hat, um dich und deine Nachkommen zu schützen. Nur: Dein Kind ist keine Bedrohung in dem Sinne, und dein modernes Gehirn weiß das auch – nur leider setzt in diesen Momenten oft das Urzeit-Gehirn die Prioritäten und der Verstand hat Pause.
Es gibt zahlreiche Gründe, warum Eltern in solche Situationen geraten: Schlafmangel, finanzielle Sorgen, soziale Isolation oder auch das Gefühl, überfordert zu sein. Diese Faktoren erhöhen den Stresspegel und können das Fass zum Überlaufen bringen.
Dass die meisten Eltern dennoch nicht gewalttätig werden, liegt daran, dass wir über eine ausgezeichnete Selbstkontrolle verfügen – zumindest die meiste Zeit. Der präfrontale Kortex ist oft stark genug, um die Impulse der Amygdala in Schach zu halten. Wir sind in der Lage, den inneren Dialog zu führen: „Ich bin wütend, aber ich werde nichts tun, was ich später bereue.“
Und wenn man die Kontrolle verliert?
Leider kann es jedoch vorkommen, dass diese Selbstkontrolle versagt – besonders wenn der Stresslevel über längere Zeit extrem hoch ist und es keinen Ausweg zu geben scheint. In solchen Momenten handelt das Gehirn rein instinktiv, und das kann gefährlich werden.
Mir ist das noch nie passiert, es blieb immer bei solchen Gefühlen, aber gehandelt habe ich nie danach. Im Rahmen meiner Arbeit als Sachverständige habe ich aber immer mal wieder damit zu tun, dass bei einem Elternteil die Selbstkontrolle versagt. Ein Beispiel schildere ich in einer Podcastfolge. Da hat eine Mama ihrem Sohn ganz plötzlich ins Gesicht gebissen.
Dass diese Gefühle auftreten, ist kein Zeichen von schlechter Elternschaft. Sie sind ein biologischer Reflex auf Stress, der in Extremsituationen ausgelöst wird. Entscheidend ist, wie man mit diesen Gefühlen umgeht. Der Schlüssel liegt darin, rechtzeitig Pausen einzulegen, Unterstützung zu suchen und sich selbst zuzugestehen, dass man nicht perfekt sein muss. Hat man wirklich Probleme mit der Selbstkontrolle kann ein Anti-Aggressionstraining helfen. Die Gefühle selbst aber, sind völlig natürlich und unbedenklich.
Praxisnahe Beispiele: 3 Alltagssituationen und ihre Entschärfung
Wenn du dich das nächste Mal dabei ertappst, wie du ins Zimmer rennst, um in ein Kissen zu schreien – lächle. Ja, das ist eine verrückte Situation. Aber es ist auch eine, die zeigt, dass du ein Mensch bist, mit all den dazugehörigen Stärken und Schwächen. Und wenn du dir bewusst machst, dass diese Momente zum Elternsein dazugehören, wirst du vielleicht sogar ein wenig darüber lachen können. Schließlich ist Humor oft die beste Waffe gegen den Alltagswahnsinn.
In diesem Sinne: Bleib stark, atme durch – und wenn alles andere fehlschlägt, erinnere dich daran, dass du nicht allein bist. Es gibt keinen perfekten Elternteil, aber es gibt viele, die ihre besten und auch schwierigsten Momente teilen.
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