Sie fing einfach an zu zittern...

Sie fing einfach an zu zittern...

Momentan begutachte ich eine Familie, wo der Mann ein Voll-Narzisst ist. Ich bin normalerweise vorsichtig mit solchen Diagnosen, aber sein Verhalten ist wie aus einem Lehrbuch, so dass ich mich da gern mal etwas weiter aus dem Fenster lehne. Die Trennung liegt schon 3-4 Jahre zurück. Damals war die Tochter 4 Jahre alt. Der Vater hat einen Rechtsstreit begonnen, weil er Umgang mit seiner Tochter wünscht. Den hat ihm nie jemand verboten, allerdings hat er sich zuletzt zu ihrem 5. Geburtstag im Jahr 2021 gemeldet, was das ganze Verfahren schon absurd wirken lässt.

Die Mutter hat ein Bisschen aus der Beziehung berichtet, allerdings auch nicht wieder alles aufgerollt. Klar war, dass es körperliche und emotionale Gewalt gegeben hatte. Als die Beziehung begann, war sie bereits schwanger, als sie erfuhr, dass er noch verheiratet war und zwei Kinder hatte. Auf ähnliche Weise endete die Beziehung dann auch einige Jahre später, denn sie konnte Chatverläufen entnehmen, dass er mit seiner Affäre bereits Nachwuch plante. Mit ihr plante allerdings gleichzeitig ebenfalls ein (zweites) Kind. Natürlich hatte auch diese Affäre keine Ahnung, dass es Frau und Kind gab. Jedenfalls hat die Mutter ihn rausgeschmissen, als sie von seinem Doppelleben erfahren hatte. Dann begannen die typischen Spielchen: Er habe sich von der Affäre getrennt, wohne jetzt im Hotel, Tränen, ich habe nie jemanden so geliebt... während er natürlich nicht im Hotel, sondern bei der Affäre untergekommen war. Trotz der partnerschaftlichen Probleme, hat die Mutter ihm nie verboten, seine Tochter zu sehen.

Es fiel ihr sehr schwer, über alles zu sprechen und sie kämpfte immer wieder mit den Tränen. Sie hatte sich ihre Notizen aus der Vergangenheit zum Gespräch herbeigeholt, sich aber nicht vorbereitet, da sie das alles zu sehr belastet hatte. Also warf sie hin und wieder einen Blick auf ihre Notizen und entdeckte dabei verschiedene Vorfälle, die sie innerhalb der letzten Jahre verdrängt hatte. Es war für mich sichtbar, wie sie durch das Lesen ihrer alten Notizen retraumatisiert wurde. Sie sasgte mehrfach "Oh Gott", schlug sich die Hand vor den Mund und begann zu zittern. Ich kenne es auch durchaus, wenn Leute mir etwas vorspielen wollen, aber das war echt. Trotz Therapien und umfangreicher Bewältigung war sie noch immer durch ihre Erlebnisse traumatisiert.

Und das Mädchen? Das hat zum Glück eine sehr liebe und kompetente Mutter, die intensiv daran gearbeitet hat, das Selbstbewusstsein des Kindes zu stärken und dem Kind zu verinnerlichen, dass das Verhalten des Vaters nichts mit ihm zu tun hat. Damit hat sie genau das getan, was auch in meinem Kurs "Safe-Zone" empfohlen wird, wenn man mit einem narzisstischen Ex-Partner zu tun hat. Die Mutter hat alles richtig gemacht und ihrer Tochter trotz ihrer Erlebnisse zu einem stabilen Selbstwertgefühl verholfen.

Denn auch die Kleine hat viel Abwertung erlebt. Sie war immer wieder enttäuscht worden, wenn der Vater sie nicht abholte, es zu Festen keine Nachricht und kein Geschenk gab, er statt der versprochenen Briefe nur einen einzigen schrieb und sie danach vergeblich täglich auf den Postboten wartete. Die größte Kränkung teilte mir die Kleine selbst mit. Sie hatte dem Papa eine Kollage mit Fotos und Basteleien gemacht, diese eingerahmt und noch den Rahmen bemalt. Das hatte sie ihm bei einer Gerichtsverhandlung dann als Geschenk mitgebracht. Als sie dann noch einmal zu einem Besuch bei ihm war, hat sie in seiner gesamten Wohnung nach dem Bild gesucht, aber er hatte es einfach nicht aufgehängt.

Sie hat mir außerdem sehr selbstbewusst mitgeteilt, dass sie den Papa erst wieder sehen möchte, wenn er ihr bewiesen hat, dass er sie liebt. Und als Beweis möchte sie für ein halbes Jahr lang wöchentlich einen Brief von ihm erhalten.

Wie würdet ihr in diesem Fall entscheiden? Soll der Vater Umgang mit dem Kind zugesprochen bekommen?

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